Kernspaltung: frühe, verführerische Frucht einer wissenschaftlichen Revolution
Die Technikgeschichte zeigt: Kernkraft für die Energieversorgung ist eine hoffnungslos überholte Technologie / Folge 1
Die Kernenergie ist eine Technologie, die neuen Optionen zur Energieversorgung nicht nur praktisch und aktuell weit unterlegen ist, sondern auch prinzipiell und dauerhaft. Das ergibt sich meines Erachtens zwingend aus der Wissenschafts- und Technikgeschichte, die ich hier in einer zwölfteiligen Serie Revue passieren lassen will. Zunächst geht es um die Voraussetzungen und die Entwicklung der Kernenergie, dann um die tiefgreifend neuen Erkenntnisse und Entwicklungen seit der Entdeckung der Kernspaltung und schließlich um die sich daraus ergebenden Optionen.
Die Atomenergie ist wieder in aller Munde. In den meisten Ländern galt sie schon als erledigt. Vor dreißig Jahren hatte sie Ihren Höhepunkt überschritten. Reaktorunfälle, die knapp an einer kaum vorstellbaren Katastrophe vorbeischrammten, Protestbewegungen sowie anhaltende Kostensteigerungen sorgten für ein Umdenken. Vor allem China hat in den letzten Jahren mit Reaktorneubauten dafür gesorgt, dass die Gesamtzahl der Kernkraftwerke in etwa gleichblieb, aber ihr Anteil an der weltweiten Stromproduktion nahm deutlich ab. Vor dem Hintergrund der Erderwärmung durch fossile Brennstoffe, steigender Kosten für die Erschließung neuer Ölquellen und zuletzt der Gaskrise in Europa sind nun aber viele, die bisher die Atomenergie ablehnten, unsicher geworden. Wir hätten doch da eine nicht ganz unproblematische, aber im Vergleich relativ praktikable Lösung für die Energieprobleme, hört man immer häufiger. Bei den lautesten Befürwortern spielen zwar mitunter handfeste industrielle Interessen, militärischen Strategien oder parteipolitischem Opportunismus eine Rolle, vor allem aber zeigt die neue Debatte meines Erachtens ein kurzes historisches Gedächtnis und ein mangelndes Verstehen der grundlegenden wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts. Eine erschreckende Ignoranz, auch bei wichtigen Entscheidungsträgern, gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Technologien, auf denen unsere hochtechnisierte Zivilisation beruht. Gegenüber Entwicklungen, die es überhaupt erst ermöglicht haben, dass heute acht Milliarden Menschen in wachsendem Wohlstand auf unserem Planeten leben – das Dreifache von 1950 und das Fünffache von 1900.
Von der Schwierigkeit, den Überblick zu bewahren
Aufbauend auf der Revolution unseres Weltbildes durch Physik und Chemie seit 1900 hat es seit der Entdeckung der Kernspaltung weitere Umwälzungen in Naturwissenschaft und Technik gegeben, die ganz neuartige, in Ihrer Tragweite vielfach offenbar noch unverstandene Möglichkeiten eröffnet haben – auch für die Energieversorgung. Vor dem Hintergrund dieser erst später entwickelten Alternativen erweist sich die Kernenergie als unnötig risikoreiche, teure, schwerfällige Technologie, die neuen Optionen nicht nur aktuell, sondern ganz prinzipiell unterlegen ist.
Um das zu verstehen, ist es hilfreich, die Wissenschafts- und Technikgeschichte seit dem Anfang des letzten Jahrhunderts Revue passieren zu lassen. Das Vorstoßen in die Nano-Dimension der Moleküle, Atome und Atomkerne, in der andersartige Gesetze gelten, als in unserer gewohnten Makro-Welt, eröffnet ein neues Kapitel in der Evolution des Lebens auf der Erde. Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs standen Wechselbeziehungen zwischen Energie und Materie im Vordergrund, danach rückte zunehmend auch die Information ins Blickfeld von Wissenschaft und Technik.
Während es viele gute Darstellungen zur Wissenschaftsgeschichte der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gibt, scheinen mir zusammenfassende Darstellungen der Entwicklungen seit dem zweiten Weltkrieg zu fehlen. Die Explosion des Wissens hat Einzeldarstellungen in verschiedenen Fachrichtungen hervorgebracht, aber eine Gesamtschau fällt schwer. Das macht es immer schwieriger, eine Technologie im Kontext zu beurteilen – erst recht für Laien, die als Bürger oder Politiker mitentscheiden wollen, wohin die Reise geht. Auch für Naturwissenschaftler und Technologen wird es immer schwieriger, den Überblick zu behalten, die meisten argumentieren nur aus der Perspektive ihres Spezialgebiets. Bereits in den achtziger Jahren hat mich die Feststellung erschreckt, dass die damalige Generation 80% aller Wissenschaftler umfasste, die jemals bis dahin gelebt hatten – das hat sich bis heute kaum geändert. Die Zahl der neuen wissenschaftlichen Publikationen wuchs seit 1952 weltweit jedes Jahr um gut 5%, d.h. sie ist heute mehr als dreißigmal höher. In den physikalisch-technischen Disziplinen war das Wachstum noch schneller. Um so wichtiger ist es, dass alle, die über den gesellschaftlichen Einsatz von Technik diskutieren oder mitentscheiden, sich von Zeit zu Zeit einen Überblick verschaffen und den historischen Kontext nicht aus den Augen verlieren. Auch die Entscheidungsmechanismen müssen sich den immer schnelleren Entwicklungen anpassen. Noch vor einigen Jahren habe ich hochrangige Energie-Manager erlebt, die voller Überzeugung mit Kostenrelationen argumentierten, die drei, vier Jahre alt waren – in der Welt von Kohle und Kernkraft konnte man das lange ohne Bedenken tun, aber bei einer Halbierung der Kosten der Photovoltaik in vier Jahren lagen sie mit ihren Schlussfolgerungen plötzlich voll daneben.
In der Diskussion um den Einsatz von Technologien spielen ökonomische Interessen, politische Strategien, ideologische Festlegungen, die Beharrungskraft von alten Industrien, Arbeitsplatzargumente und Konsumgewohnheiten oft eine wichtigere Rolle als grundsätzliche technisch-naturwissenschaftliche, volkswirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Argumente. Oft wird den Beteiligten erst Jahrzehnte später klar, dass sie die technisch-ökonomischen „Fundamentals“ zu wenig beachtet hatten, die man vielleicht kurzfristig überspielen kann, die sich aber langfristig durchsetzen. Politikprofis, Finanzspezialisten, Betriebswirte und Juristen, die in den strategischen Entscheidungsgremien dominieren, sind dafür besonders anfällig und tendieren dazu, kurzfristig zu denken. Deshalb möchte ich in dieser Serie vor allem die fundamentalen naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen betonen, die als Grundlage dazu dienen können, die langfristigen Chancen der einen oder anderen Strategie abzuschätzen. Zurücklehnen und abwarten, wie das Spiel der ökonomischen und politischen Kräfte ausgeht, ist nicht mehr zu verantworten. Spätestens in diesem Jahr sind die bedrohlichen Folgen früherer Fehlentscheidungen in der Energiepolitik den Meisten deutlich geworden. Die Klima-Uhr tickt.
Von der Entdeckung der Radioaktivität zur Kernspaltung: Die Physik revolutioniert das Verständnis von Energie und Materie
Die Geschichte der Atomenergie ist oft erzählt worden, und sie hat Generationen von Physikern, Technikern und Politikern fasziniert – nicht zuletzt wegen der schwer vorstellbaren zerstörerischen Kraft der Kernspaltung. Viele Fakten sind weithin bekannt, nicht kontrovers und lassen sich leicht (z.B. in Wikipedia) nachlesen. Nur dort, wo man eingehender recherchieren müsste, gebe ich einzelne Quellenhinweise.
Am Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die Physik mit atemberaubender Geschwindigkeit und veränderte das Verständnis der materiellen Welt so grundlegend, dass die Tragweite der neuen Sichtweise bis heute schwer zu erfassen ist. Um die Jahrhundertwende war man noch nicht von der Existenz von Atomen überzeugt. Mit der Entdeckung der Kernspaltung 1938 entstand die Hoffnung auf eine neue, fast unerschöpfliche Energiequelle.
1896 entdeckte Antoine Henri Becquerel eine seltsame Strahlung, die das Schwermetall Uran aussendet. Marie und Pierre Curie entdecken anschließend weitere radioaktive Elemente und nennen die Strahlung „Radioaktivität“. Ernest Rutherford stellte fest, dass es sich um mehrere Arten von Strahlung handelt und erklärt sie 1902 damit, dass sie beim Zerfall von radioaktiven Atomen in kleinere Atome entstehen. 1911 revolutionierte er das Verständnis von Materie mit seinem Atommodell: neue Versuchsergebnisse seien nur so zu deuten, dass die Masse im Atom nicht gleichmäßig verteilt, sondern in einem sehr kleinen positiv geladenen Atomkern konzentriert ist, der von fast masselosen negativ geladenen Elektronen umkreist wird.
Gleichzeitig gab es Fortschritte beim Verständnis von Strahlung: Um experimentelle Ergebnisse bei der Untersuchung von Wärmestrahlung zu erklären, stelle Max Planck 1900 die Hypothese auf, dass elektromagnetische Strahlungsenergie in sogenannte Quanten portioniert ist. Darauf aufbauend gelang es Albert Einstein 1904, den photoelektrischen Effekt zu erklären und die spezielle Relativitätstheorie aufzustellen. Darin postulierte er die Äquivalenz von Masse und Energie mit der berühmten Formel E=mc2. 1924 stellte Louis de Broglie die These auf, dass nicht nur Photonen, sondern auch massebehaftete Teilchen als Welle beschrieben werden können. Zwischen 1926 und 1928 gelang es dann Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und schließlich Paul Dirac, eine mathematische Formulierung der Quantentheorie zu finden, die auch die Einstein‘sche spezielle Relativitätstheorie umfasste. Die Kreisbahnen der Elektronen um den Atomkern im bisherigen Atommodell waren nur noch als Wolken von Aufenthaltswahrscheinlichkeiten zu begreifen. Welle und Korpuskel waren nur noch unterschiedliche Beschreibungen desselben. Die Dynamiken in der atomaren Welt waren nur noch mathematisch beschreibbar und der menschlichen Anschauung nicht zugänglich.
Doch blieben die Zusammensetzung von Atomkernen und verschiedene radioaktive Strahlungsphänomene weiter rätselhaft, bis 1932 James Chadwick die Existenz von Neutronen nachwies. Damit war die Erklärung von Atomen, Atomkernen und dem Periodensystem der Elemente vorläufig vollständig: Atomkerne bestanden aus etwa gleich schweren Protonen und Neutronen – Geringfügig geringere Massen großer Atomkerne gegenüber der Summe ihrer Komponenten konnten mit der Äquivalenz von Masse und Energie erklärt werden und wurden zum Indikator ihrer Stabilität. Große Atomkerne enthielten einen geringfügig höheren Anteil von Neutronen als kleinere. 1934 gelang es dann Irène und Frédéric Joliot-Curie Atomkerne durch Bestrahlung umzuwandeln und neue Elemente und Isotope herzustellen.
Damit waren die theoretischen und experimentellen Voraussetzungen für die Entdeckung der Kernspaltung im Wesentlichen gegeben. Schon 1933 hatte Leó Szillárd in London die Idee der Energiegewinnung durch nukleare Kettenreaktionen – ein entsprechendes Patent ließ er wegen der möglichen militärischen Bedeutung geheimhalten. Experimentell wurde die Kernspaltung dann 1938 in Berlin von den Chemikern Otto Hahn und Fritz Strassmann entdeckt und kurz darauf von den Physikern Lise Meitner und Otto Frisch erklärt – Meitner, die eng mit Hahn zusammengearbeitet hatte, war kurz zuvor aus Deutschland nach Schweden geflohen. Hahn und Strassmann spalteten den Atomkern des Uran-Isotops 235 durch Beschuss mit langsamen Neutronen, wobei neben einer Kaskade von unterschiedlich langlebigen Spaltprodukten Strahlung verschiedener Art frei wurde – unter anderem schnelle Neutronen. Das ließ erwarten, dass man durch gezielte Abbremsung der entstehenden Neutronen eine Kettenreaktion der Uranspaltung auslösen könnte.
Ende einer wissenschaftlichen Ära
Damit endete eine Periode intensiver internationaler Zusammenarbeit zwischen Forschern in Berlin, Paris, London/Cambridge, Rom und Kopenhagen, die das Verständnis von Materie und Energie grundlegend änderte und den Zugang zur Welt der Atome und Moleküle öffnete. In dieser Welt, die nicht mehr in Mikrometern, sondern in Nanometern vermessen wird, herrschen ganz andere Gesetze, als wir sie in unserer mit eigenen Augen zu besichtigenden Makro-Welt kennen. In diesen rund vierzig Jahren hat sich das Weltbild der Wissenschaft wohl tiefgreifender verändert als in den vierhundert Jahren seit Kopernikus. Mit den philosophischen Implikationen und den praktischen Konsequenzen für die Rolle des Menschen in der Ökosphäre tun wir uns bis heute schwer.
Der erste Weltkrieg unterbrach diese Arbeiten für einige Jahre, aber konnte die wirtschaftlich noch unbedeutende wissenschaftliche Entwicklung nicht aufhalten. Mit der Entdeckung der Kernspaltung kurz vor dem zweiten Weltkrieg aber kam die Hoffnung auf, eine neue, fast unerschöpfliche Energiequelle militärisch nutzen zu können. Die gegnerischen Kriegsparteien starteten geheime, voneinander abgeschottete Entwicklungsprogramme.
Nächste Folge 2/12: Die Zähmung der Bombe: Unaufhaltsam steigende Kosten